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Sozialrecht 
16.07.2015

Ist der Fortbestand der herkömmlichen Sozialversicherung in Gefahr?

ESV-Redaktion
In der Kritik: Privater Zukauf ärztlicher Leistungen (Foto: Syda Productions/Fotolia.com)
Vermehrt wird die einst solidarische Sozialversicherung von privatversicherungsrechtlichen Faktoren bestimmt. Kritisch beleuchtet Dr. Hans-Jürgen Kretschmer die aktuellen Entwicklungen in einem Beitrag für die Zeitschrift SGb.

„Starker Rückgang bei den Privaten Kassen“, „Privatversicherte müssen mit Preiserhöhungen rechnen“ – die jüngsten Schlagzeilen zur privaten Absicherung machen deutlich: die Zeiten, in denen das Kerngeschäft der Privatversicherungen boomte, sind vorbei.

Für Kretschmer ergeben sich danach folgende Fragen: Wie steht es um die öffentlich-rechtliche Sozialversicherung? Unterscheidet sich diese noch wesentlich von der Privatversicherung? Oder entwickelt sie sich vielmehr in ein Absicherungssystem mit privatwirtschaftlicher Denkweise?

Spielraum für Absicherungsformen

Der Gesetzgeber ist – durch die Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht und Bundessozialgericht – befugt, die elementaren Risiken der sozialen Sicherheit sowohl durch öffentlich-rechtliche als auch durch privatversicherungsrechtliche Absicherungsformen zu regeln. Durch diesen Spielraum darf er sodann die unterschiedlichen Systeme, entsprechend ihrer Eigenart, unterschiedlich ausgestalten. Dabei dürfe jedoch nicht vergessen werden: Etwa 90 Prozent der Bevölkerung sind in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Darin sind sie, aufgrund von Versicherungszwang bzw. Versicherungspflicht, frei von eigenen Gestaltungsmöglichkeiten. Allein dadurch, so Kretschmer in seinem Beitrag, nehme die Sozialversicherung einen speziellen Stellenwert ein.

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Annäherung der beiden Versicherungssysteme

Seit 1970 sei eine Annäherung der beiden Absicherungsformen zu beobachten, beschreibt Kretschmer. Elemente der privatversicherungsrechtlichen Absicherung gingen zunehmend auch in die Sozialversicherung ein. Eine Relativierung habe stattgefunden, die bis hin zu Formen der Ablösung von den Regelungen des besonderen Verwaltungsrechts reicht, so Kretschmer. Es komme zu Elementen und Denkweisen, die typischerweise die Privatversicherung und die Privatwirtschaft prägen. „Diese Tendenz ist geeignet, das herkömmliche öffentlich-rechtliche Sozialversicherungssystem zu gefährden und im Extrem sogar in seinem Fortbestand in Frage zu stellen“.

Beispielhaft führt Kretschmer auf:

  • die „Hartz“-Gesetzgebung: Betroffenen würde oftmals die mit einem Normalarbeitsverhältnis verbundenen sozialen Rechte vorenthalten,
  • die 2002 eingeführte „Riester“-Rente oder
  • die sogenannte Pflege-Bahr-Zusatzversicherung von 2013, als staatlich bezuschusste private zusätzliche Sicherungsform zur Pflegeversicherung.

Auswirkungen in der Alterssicherung

Speziell bei der Alterssicherung sei – durch neue Ausgestaltungen – ein „Trend“ in Gang gesetzt worden, der „weg von einer staatlich überwachten solidarischen Umlagefinanzierung ohne Gewinninteressen hin zu kapitalgedeckter und von privatwirtschaftlichen Interessen geleiteter Sicherung mit all ihren Schwächen geht“. In der Umsetzung dieses Trends sieht Kretschmer die Gefahr der Verschärfung ohnehin bestehender sozialer Ungleichheiten. Kretschmers Alternative: Eine Reform innerhalb der Sozialversicherung selbst, etwa durch einen (umlagenfinanzierten) Ausbau der freiwilligen Versicherung oder das Wiederaufgreifen der bis 1997 existierenden Höherversicherung.

Auch der „Zukauf“ privater Leistungen verschärfe, so Kretschmer, die soziale Ungleichheiten. Selbstzahlern würden werbewirksame Angebote zur Selbstmedikation oder zur Inanspruchnahme individueller Gesundheitsleistungen (IgeL) unterbreitet. „Patienten treten Ärzten insoweit nicht als Versicherte der GKV gegenüber, sondern als privatwirtschaftlich agierende Kunden“.

Was tun gegen die unsolidarische Verwendung von Zwangsbeiträgen?

Nach Kretschmers Ansicht kann den beschriebenen Auswirkungen bereits mit den Mitteln des geltenden Rechts begegnet werden. So sei es Aufgabe der Sozialversicherungsaufsicht und der sozialgerichtlichen Rechtsprechung gegen rechtswidrige Leistungsausgrenzung und unsolidarische Verwendung von Zwangsbeiträgen vorzugehen: „Die Begünstigung einer interessenorientierten partikulären Schnäppchen-Mentalität“, formuliert Kretschmer, „sei mit dem Gebot der Gleichbehandlung all jener, die auf eine leistungsfähige und funktionsfähige Sozialversicherung angewiesen sind, nicht vereinbar“. (ESV/akb)

Den vollständigen Beitrag von Hans-Jürgen Kretschmer finden Sie hier.

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Zur Person

Der promovierte Jurist Hans-Jürgen Kretschmer ist seit Januar 2011 Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht und regelmäßiger Autor der Zeitschrift SGb – Die Sozialgerichtsbarkeit. Nach seiner wissenschaftlichen Tätigkeit an der Freien Universität Berlin, trat Kretschmer 1982 in den Richterdienst ein. Er wechselte, nach Stationen am Landes- und Sozialgericht Berlin, im September 1999 zum Bundessozialgericht.

Literaturhinweise zum Sozialrecht

Als Vertiefung zum Thema dient auch der Beitrag von Dr. Florian Reuther: „Die Private Pflegeversicherung in der Pflegereform“, erschienen in der Zeitschrift KrV – Kranken- und Pflegeversicherung (auch als ejournal abrufbar).

Die Zeitschrift SGb – Die Sozialgerichtsbarkeit befasst sich umfassend mit aktuellen und grundsätzlichen Themen zum Sozialrecht – erhältlich als Printversion und als ejournal.

Ausführlich über die Sozialversicherung informiert der SGB-Kommentar, Stand: 2015. Das Werk erscheint im Rahmen des Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch Gesamtkommentar.