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Betreuungsrecht 
09.09.2016

BVerfG: Ärztliche Zwangsbehandlung muss neu geregelt werden

ESV-Redaktion Recht
BVerfG sieht staatliche Schutzpflichten für hilflose Personen (Foto: CHW/Fotolia.com)
Dürfen hilfsbedürftige Menschen, die nicht in geschlossenen Einrichtungen sind, gegen ihren natürlichen Willen ärztlich behandelt werden? Nach der aktuellen Rechtslage ist dies ausgeschlossen, meint das BVerfG und macht Vorgaben für den Gesetzgeber und die aktuelle Praxis.

Nach einem vor kurzem veröffentlichten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), verstößt die gegenwärtige Rechtslage von hilfebedürftigen Personen gegen die staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 GG. Danach darf solchen Personen bei lebensbedrohenden Gesundheitsschäden nicht die Möglichkeit einer Behandlung verwehrt werden, wenn diese keinen freien Willen mehr bilden können und nicht zwangsweise untergebracht sind.

Notfalls könne dies auch durch eine zwangsweise ärztliche Behandlung geschehen, meinen die Verfassungshüter. Vorläufig ist daher auch insoweit § 1906 Absatz 3 BGB anzuwenden. Dem Gesetzgeber hat der Erste Senat des BVerfG aufgegeben, die festgestellte Schutzlücke unverzüglich zu schließen.

Betroffene lehnt Behandlung ab

Die inzwischen verstorbene Betroffene litt unter einer schizoaffektiven Psychose. Deswegen stand sie seit Ende April 2014 unter Betreuung. Anfang September 2014 wurde sie kurzzeitig in eine Pflegeeinrichtung aufgenommen. Dort lehnte sie es ab, die zur Behandlung einer Autoimmunerkrankung verordneten Medikamente einzunehmen. Ebenso verweigerte sie die Essensaufnahme und äußerte Suizidabsichten. Mit richterlicher Genehmigung wurde die Betroffene dann auf eine geschlossene Demenzstation in einem Klinikum verlegt.

Instanzgerichte weisen Antrag auf Zwangsbehandlung zurück

Auf der Grundlage mehrerer betreuungsgerichtlicher Beschlüsse wurde sie durch ärztliche Zwangsmaßnahmen medikamentös behandelt. Weiterhin stellte sich heraus, dass die Betroffene an Brustkrebs erkrankt war. Allerdings war sie körperlich schon stark geschwächt. So konnte sie nicht mehr gehen. Zudem wurde sie in eine nicht geschlossene Abteilung verlegt.

Auf richterliche Befragungen antwortete sie dort wiederholt, dass sie sich wegen der Krebserkrankung nicht behandeln lassen wollte. Daraufhin beantragte die Betreuerin die Durchführung ärztlicher Zwangsmaßnahmen zur Behandlung des Brustkrebses.

Das Amtsgericht wies die Anträge auf Unterbringung und Zwangsbehandlung zurück. Die Betroffene könne nicht nach § 1906 Absatz 1 BGB freiheitsentziehend untergebracht werden, weil die Voraussetzungen dieser Norm nicht vorliegen. Daher scheide auch eine Zwangsbehandlung aus. Die Beschwerde zum Landgericht blieb erfolglos.

BGH ruft BVerfG an

Auf die Rechtsbeschwerde der Betreuerin hat der Bundesgerichtshof (BGH), das Verfahren ausgesetzt und dem BVerfG die Frage vorgelegt, ob § 1906 Absatz 3 BGB in der Fassung vom 18.02.2013 mit Art. 3 Absatz 1 GG vereinbar ist. 

Im Wortlaut: § 1906 Genehmigung des Betreuungsgerichts bei der Unterbringung - Absatz 3
(3) Widerspricht eine ärztliche Maßnahme nach Absatz 1 Nummer 2 dem natürlichen Willen des Betreuten (ärztliche Zwangsmaßnahme), so kann der Betreuer in sie nur einwilligen, wenn
  1. der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann,
  2. zuvor versucht wurde, den Betreuten von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen,
  3. die ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen der Unterbringung nach Absatz 1 zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden,
  4. der erhebliche gesundheitliche Schaden durch keine andere dem Betreuten zumutbare Maßnahme abgewendet werden kann und 
  5. der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegt.
§ 1846 ist nur anwendbar, wenn der Betreuer an der Erfüllung seiner Pflichten verhindert ist.

 

Die Verfassungshüter meinen, dass Betreute, die keinen freien Willen mehr bilden können, besonders schutzwürdig sind. Es verstoße gegen Art. 2 Absatz 2 Satz 1 GG, dass eine medizinisch notwendige Behandlung vollständig ausgeschlossen ist, wenn sie dem mutmaßlichen Interesse der Betreuten widerspricht und diese nicht freiheitsentziehend untergebracht werden können. Die staatliche Gemeinschaft dürfe den hilflosen Menschen nicht einfach sich selbst überlassen, so das BVerfG weiter. 

Ärztliche Untersuchungs- und Heilmaßnahmen wären daher in gravierenden Fällen als letztes Mittel auch gegen den geäußerten Willen der betroffenen Personen geboten. In diesem Fall überwiegt die staatliche Schutzpflicht gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der hilflosen Person. Aktuell sieht das Betreuungsrecht des BGB eine ärztliche Zwangsbehandlung aber nur für Betreute vor, die geschlossen untergebracht sind.

Gesetzgeber muss Schutzlücke schließen

Damit besteht eine Regelungslücke, die der Gesetzgeber unverzüglich schließen muss. Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung, so das BverfG weiter, müsse § 1906 Absatz 3 BGB entsprechend angewendet werden.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 59/2016 vom 25.08.2016 - Beschluss des BVerfG vom 26.07.2016 - AZ: 1 BvL 8/15  

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Weiterführende Literatur
  • Das Buch Betreuungs- und Unterbringungsverfahren für die gerichtliche, anwaltliche, behördliche und Betreuungspraxis, von Dr. Martin Probst, Vorsitzender Richter am Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht, erläutert in kompakter Form das aktuelle Betreuungs- und Unterbringungsverfahren, seine Strukturen, die Verfahrensrechte und typische Praxissituationen. Es beleuchtet die Folgen der Umsetzung des 2. Betreuungsrechtsänderungsgesetzes und berücksichtigt bereits das neue Recht der Patientenverfügung.

  • Das Buch Vorsorgevollmacht – Betreuungsverfügung – Patientenverfügung, von Prof. Dr. Walter Zimmermann, beantwortet zahlreiche Fragen aus diesem Rechtsgebiet. Der praxiserprobte Experte erläutert ausführlich die verschiedenen Vorsorgemodelle und Anwendungsbereiche sowie die Verfahrensabläufe und Kosten. Kommentierte Musterformulare zu den drei Vorsorgemodellen runden das Werk ab.

(ESV/bp)