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Berufskrankheit Nr. 2108 
13.01.2017

Kranig: „Bei berufsbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule sind noch viele Fragen offen”

ESV-Redaktion Recht
Berufskrankheit 2108: Nachweis der arbeitsbedingten Belastung schwierig (Foto: Gina Sanders/Fotolia.com)
Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule sind ein Dauerbrenner bei den Sozialgerichten, meint Prof. Dr. Andreas Kranig. Zwar erkennt er in grundlegenden Urteilen des Bundessozialgerichts eine gewisse Vereinheitlichung: Dennoch seien noch viele Fragen offen, so Kranig in einem Beitrag für die Fachzeitzschrift SGb.

„Der Tatbestand der Berufskrankheit (BK) Nr. 2108 kennt kein typisches Krankheitsbild. Vielmehr benennt er die bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule (LWS) als Sammelbezeichnung”, stellt Kranig am Anfang seines Beitrages fest. Der Krankheitsbegriff steht für ein lokales Lumbalsyndrom, ein mono-und polyradikuläres lumbales Wurzelsyndorm und ein Kaudasyndrom.

Allerdings sind diese Krankheiten auch ohne Einwirkungen von besonderen arbeitsbedingten Belastungen in der Bevölkerung weit verbreitet. Dies macht die Abgrenzung zur Berufskrankheit sehr schwierig. 

Viele unbestimmte Rechtsbegriffe

Zwar benennt der BK-Tatbestand die arbeitsbedingten Einwirkungen eindeutig, so Kranig. Hier finde man zum Beispiel Umschreibungen, wie „Heben und Tragen von Lasten” oder „Rumpfbeugehaltung”.

Allerdings wären die Dauer und die Intensität der Einwirkungen durch unbestimmte Rechtsbegriffe, wie „langjährig”, „schwer” oder „extrem” umschrieben. Diese Unschärfen, so Kranig weiter, seien aus den lückenhaften wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Ursachen und die Entstehung dieser Erkrankungen entstanden.

Bestanden hätten diese bereits zum Zeitpunkt der Einführung der BK 2108 im Jahr 1993 und seien auch heute noch vorhanden. Vor allem die Abgrenzung zwischen den mitverursachenden arbeitsbedingten Faktoren und anderen Faktoren, wie zum Beispiel die Veranlagung, Alter, Trainingszustand oder sonstigen Krankheiten wäre auch heute noch schwierig.

Für den Begriff der Langjährigkeit wären dem BSG zu Folge im Durchschnitt zehn belastende Berufsjahre erforderlich. Aus dieser weichen Formulierung schließt Kranig dann, dass bei besonders intensiver Belastung auch etwas weniger als zehn Jahre für die Anerkennung als Berufskrankheit ausreichen können.

Haftungsbegründende Ursachen

Nachdem der Verfasser die einzelnen BK-Tatbestände intensiver erläutert hat, widmet er sich dem haftungsbegründenden Ursachenzusammenhang. Dieser setzt im Wesentlichen voraus:
  • Ausreichende Lebensdosis der Druckbelastungen, um eine bandscheibenbedingte Druckbelastung zu verursachen,
  • BK-konformes Schadensbild,
  • Keine konkurrierenden Ursachen: Krankheit darf nicht allein oder wesentlich durch andere Faktoren verursacht worden sein.

Druckbelastung als Lebensdosis

Zur erforderlichen Lebensdosis meint er dann, dass auch dieser Tatbestand lediglich durch unbestimmte Rechtsbegriffe umschrieben wäre. Diese, so der Verfasser weiter, wurden dann durch einige Merkblätter und branchenspezifische Modelle konkretisiert.

Grundlagen der Konkretisierung des Begriffs Lebensdosis
  • Merkblatt von 1992
  • Mainz-Dortmunder Dosismodell (MDD) von 1999
  • BK-Report des HVBG von 2003
  • Überarbeitetes Merkblatt von 2006

Richtwerte zur Orientierung

Insoweit hebt Kranig dann hervor, dass das MDD aus den Forschungsergebnissen, die bei Einführung der BK-Nr. 2018 vorlagen, Schwellenwerte für die Lebensdosen in Mega-Newton-Stunden (MNh) abgeleitet hat. Hierbei werden Belastungen in Druckkräfte (N) umgerechnet und gewichtet.

Diese Schwellenwerte sind jedoch nur Orientierungswerte und nicht als starre Größen zu verstehen. Bei Erreichen dieser Werte können die arbeitstechnischen Voraussetzungen zur Annahme einer Berufskrankheit (BK) vorliegen. Werden diese Schwellen unterschritten, müssten in diesen Fällen besonders kritisch geprüft werden.

Bei Frauen, so Kranig, liegt der Orientierungswert bei 17 MNh, während der MDD bei Männern zu einem Richtwert von 25 MNh kommt.

Die Entscheidungen des BSG vom 23.04.2015

Dies, so Kranig weiter, habe das BSG seit seiner Leitsatzentscheidung vom 18.03.2003 (B 2 U 13/02 R) als geeignete Grundlage zur Konkretisierung der abstrakten Anforderungen an die BK 2108 angesehen.

Diese Rechtsprechung habe das BSG dann mit seinen Entscheidungen vom 23.04.2015 fortgeführt. Während in den Fällen mit den AZ: B 2 U 10/14 R sowie B 2 U 5/13 R die genannten Werte deutlich überschritten wurden, kam der Kläger in dem Fall unter B 2 U 20/14 R nur auf eine Lebensdosis von 18,54 MNh.

BSG: Einzelfallbetrachtung nach wie vor erforderlich

In dieser Entscheidung hatte das BSG die Auffassung der Vorinstanz bestätigt. Diese hatte die Beklagte dazu verurteilt, das Vorliegen einer BK 2108 anzuerkennen. In dem betreffenden Fall war der Kläger während seiner versicherten Tätigkeit Belastungen durch Heben von Lasten von insgesamt 9,71  MNh ausgesetzt. Darüber wurden Belastungen in extremer Rumpfbeugehaltung im Umfang von zumindest 8,83 MNh berücksichtigt. Eine relevante Belastung im Sinne der BK 2108 sahen beide Gerichte auch bei einem Beugewinkel von 90 Grad oder etwas weniger gegeben. So bezieht das Referenzdosismodell der Deutschen Wirbelsäulenstudie (DWS) II bereits Rumpfbeugehaltungen ab 45 Grad mit ein. Daraus errechnete sich eine Gesamtbelastungsdosis von zumindest 18,54 MNh. Diese, so das BSG, liege weit über dem vom DWS II offenbar angenommenen Schwellenwert von 7 MNh für Männer.

Insgesamt, so Kranig, führen die drei Urteile BSG die bisherige Rechtsprechung konsequent weiter. Der Autor stimmt den Ergebnissen insoweit zu.

Noch viele Fragen offen

Allerdings bleiben wichtige Fragen offen. Dies gelte zum Beispiel für den Mindestbelastungswert für Frauen, die Bedeutung der Ergebnisse der DWS und der DWS-Folgestudien. Auch die kontrovers geführten wissenschaftlichen Diskussion für die Expositionsbeurteilung und für die Kriterien des belastungskonformen Schadensbilds bieten in den Augen Kranigs zum Teil bieten sie Anlass zur Kritik.

Die Probleme der BK-Nr.2108 seien grundsätzlicher Natur. Nach seiner Auffassung bedarf es weiterer Anstrengungen vor allem des Verordnungsgebers und des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Berufskrankheiten (ÄSVB), um die die generellen Abgrenzungskriterien der BK-Nr.2108 zu konkretisieren.

Verordnungsgeber in der Pflicht

Ob die vom BMAS für erforderlich gehaltene neue Forschung in absehbarer Zeit neue und verwertbare Ergebnisse bringt, bezweifelt der Verfasser. Viel wichtiger erscheint es ihm, alles bislang Vorliegende grundlegend und kritisch zu bewerten, um hieraus in sich schlüssiges Gesamtbild der Ursachen und der Bedeutung von arbeitsbedingten Faktoren bei bandscheibenbedingten Erkrankungen der LWS zu erstellen. Insoweit schließt er sich der Mahnung des BSG an den Verordnungsgeber am Ende seines Urteils Sachen B 2 U 10/14 R an.

Den vollständigen Aufsatz lesen Sie in der Fachzeitschrift SGb, Die Sozialgerichtsbarkeit, Ausgabe 09/2016

Weiterführende Literatur
Das Buch Schöneberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Rechtliche und medizinische Grundlagen für Gutachter, Sozialverwaltung, Berater und Gerichte, bietet als Standardwerk in Neuauflage den Mitarbeitern der Sozialverwaltung eine verlässliche und allgemein anerkannte Entscheidungshilfe, dem begutachtenden Arzt Hinweise zu den gerichtlichen Anforderungen an wissenschaftliche Gutachten und dem verantwortlichen Juristen ausführliche Informationen über die wesentlichen medizinischen Erfahrungssätze und die möglichen Heilmethoden.

(ESV/bp)