Entschädigung für überlange Gerichtsverfahren in der Sozialgerichtsbarkeit
25.11.2020
Von „guten und schlechten Zeiten“ im Sozialgerichtsprozess
ESV-Redaktion Recht
Mit dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren hat der Gesetzgeber bei unangemessen langen Verfahren auch in der Sozialgerichtsbarkeit einen Entschädigungsanspruch gegen den Staat eingeführt. Dies betonte die Bundesregierung kürzlich in ihrer Antwort auf eine kleine Anfrage der FDP-Fraktion. In einem dreiteiligen Beitrag widmet sich auch Dr. Jens Kaltenstein in der Fachzeitschrift Wege zur Sozialversicherung WzS diesem Thema, indem er die hierzu ergangene höchstrichterliche Rechtsprechung beleuchtet.
Das seit dem 3. Dezember 2011 geltende Gesetz soll dem Betroffenen die Nachteile ersetzen, die aus überlangen Gerichtsverfahren resultieren, führt Dr. Kaltenstein in seine Beitragsreihe ein. Mit dem dort vorgesehenen Entschädigungsanspruch wollte der Gesetzgeber eine Rechtsschutzlücke schließen, so der Verfasser weiter.
Anforderungen von Art. 6 und Art. 13 EMRK waren in Deutschland nicht erfüllt
Im ersten Teil seines Aufsatzes schickt Dr. Kaltenstein zunächst die Feststellung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) aus dem Urteil vom 8.6.2006 voran. In diesem hat der EGMR festgestellt, dass die Rechtsschutzmöglichkeiten in Deutschland bei überlanger Verfahrensdauer nicht den Anforderungen von Art. 6 Absatz 1 EMRK sowie von Art. 13 EMRK entsprechen. Als Reaktion hierauf hat der Bundesgesetzgeber diesen Rechtsschutz in der Novelle der §§ 198 bis 201 GVG geregelt.
Verfahren nicht kostenlos
Eingehend auf die klassischen Verfahrensfragen hebt der Autor dann dann hervor, dass das Verfahren in der Sozialgerichtsbarkeit gerichtskostenpflichtig ist. Nachdem er sich anschließend den Fragen der Zulässigkeit der Entschädigungsklage widmet, geht er besonders auf darauf ein,
- wer der richtige Klagegegner ist
- und erörtert die materiellen Voraussetzungen für den Entschädigungsanspruch.
Der Verfasser schließt den ersten Teil seines Aufsatzes mit Ausführungen zur Rechtsnatur der Verzögerungsrüge und zu deren Auslegung.
Den vollständigen Teil I des Aufsatzes von Dr. Jens Kaltenstein finden Sie in der WzS Ausgabe 9/2020 auf den Seiten 259 ff. |
Keine Kontrolle der Richtigkeit des Ausgangsverfahrens
Im zweiten Teil widmet sich Dr. Kaltenstein zunächst dem Prüfungsmaßstab für das Entschädigungsgericht. Hierzu führt er aus, dass es insoweit allein auf die Überlänge des betreffenden Gerichtsverfahrens ankommt. Eine weitergehende Richtigkeitskontrolle des Ausgangsgerichts findet nicht statt. Das Entschädigungsverfahren eröffnet also keine weitere Instanz. Auch habe das Entschädigungsgericht, so Dr. Kaltenstein weiter, die materielle Rechtsauffassung des Ausgangsgerichts zugrunde zu legen.
Mehrstufige Prüfung der zeitlichen Angemessenheit
Die Prüfung, ob das Ausgangsverfahren in angemessener Zeit durchgeführt wurde, erfolgt dann in mehreren Schritten. So ist im Anschluss an die Feststellung der gesamten Verfahrensdauer der Ablauf des Verfahrens anhand der Kriterien von § 198 GVG Absatz 1 Satz 2 zu prüfen. Ob die Dauer des Verfahrens unangemessen war, hängt dem Autor zufolge dann wesentlich davon ab, ob Verzögerungen durch ein Verhalten eingetreten sind, das dem Staat zuzurechnen ist und ob das Ausgangsgericht dem in vertretbarer Weise gerecht geworden ist.
Richterlicher Beurteilungsspielraum des Entschädigungsgerichts
Bei dieser Wertung, so Dr. Kaltenstein weiter, habe das Entschädigungsgericht einen erheblichen tatsächlichen richterlichen Beurteilungsspielraum. In einem Revisionsverfahren würde das BSG insoweit also nur prüfen, ob das Entschädigungsgericht die relevanten Bedeutungsgehalte und alle erforderlichen Tatsachen angemessen erfasst hat.
Anschließend äußert sich Dr. Kaltenstein noch zur Amtsermittlungspflicht und zu Verstößen gegen die Denkgesetze. Im Zentrum seiner weiteren Ausführungen steht dann die konkrete Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer.
Teil II des Aufsatzes von Dr. Jens Kaltenstein finden Sie in der WzS Ausgabe 10/2020 auf den Seiten 295 ff. |
Haftungsausfüllende Kausalität und Adäquanz
Im abschließenden dritten Teil erläutert Dr. Jens Kaltenstein dann den Umfang der Entschädigung für Nachteile infolge der unangemessenen Dauer eines Sozialgerichtsverfahrens. Demnach umfasst der Entschädigungsanspruch sowohl einen Ersatz für materielle Nachteile als auch einen Ausgleich für immaterielle Nachteile.
Voraussetzung für einen Entschädigungsanspruch für materielle Nachteile ist eine haftungsausfüllende Kausalität zwischen dem materiellen Nachteil und der Überlänge des Verfahrens. Dies bemisst sich nach den Regeln der Adäquanz.
Anspruch auf entgangenen Gewinn bleibt offen
Dr. Kaltenstein zufolge bleibt aber offen, ob ein Anspruch auf entgangenen Gewinn besteht. Zu den immateriellen Folgen zählen insbesondere die nachteiligen psychologischen Wirkungen wie Besorgnisse, Ärgernisse und Ungewissheiten, die sich aus der überlangen Verfahrensdauer über die üblichen Belastungen durch Prozessrisiken hinaus ergeben.
Darüber hinaus zeigt der Autor auf, in welchen konkreten Fallkonstellationen die Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer des Gerichtsverfahrens in Betracht kommen kann.
Den abschließenden Teil III des Aufsatzes von Dr. Jens Kaltenstein können Sie in der WzS Ausgabe 11/12/2020 auf den Seiten 323 ff. nachlesen |
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