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Gesetzliche Unfallversicherung 
09.06.2022

LSG Hessen zur posttraumatischen Belastungsstörung bei Miterleben von Gleissuizid

ESV-Redaktion Recht
BU: Der Kläger befindet sich in psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung: Hier ein Symbolbild (Foto: VadimGuzhva / stock.adobe.com)
Unter welchen Voraussetzungen kann der Gleissuizid eines Passanten bei einem Bahnmitarbeiter, der diesen Suizid miterlebt hat, eine post­trau­ma­ti­sche Be­las­tungs­stö­rung auslösen, die die gesetzliche Unfall­ver­si­che­rung an­er­kennen muss? Hierzu hat das LSG Hes­sen eingehend Stellung genommen.


In dem Streitfall hatte sich ein Passant im Düsseldorfer Hauptbahnhof bei einem 52-jährigen Kundendienstmitarbeiter der Deutschen Bahn AG nach einem Zug erkundigt. Der Mann stieg aber nicht in den Zug ein, sondern rannte davon. Nach dem Stopp des einfahrenden Zuges fand der Mitarbeiter den zweigeteilten Leichnam des Mannes.

Der Kundendienstmitarbeiter übte seine Tätigkeit nach einer kurzen Arbeitsunfähigkeit vorerst zwar weiter aus. Allerdings litt er unter Albträumen, Schlafstörungen und sogenannte Flash-backs, in denen er sich unwillkürlich an das traumatische Erlebnis erinnert und diese wiedererlebt. Seine Fachärzte und Psychotherapeuten diagnostizierten eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Gegenüber der Unfallversicherung Bund und Bahn beantragte der Bahnmitarbeiter die Anerkennung seines Erlebnisses als Arbeitsunfall.

Unfallversicherung: Das Suizidereignis hat beim Kläger lediglich eine vorübergehende Belastungsreaktion ausgelöst

Demgegenüber wollte die Unfallversicherung nur eine vorübergehende akute Belastungsreaktion als Unfallfolge feststellen. Nach Auffassung der Versicherung sind die aktuellen Beschwerden des Klägers nämlich unabhängig von dem Unfall aufgetreten. Vor allem der Umstand, dass der Kläger nach zwei Wochen Arbeitsunfähigkeit weitergearbeitet hatte, spreche gegen eine PTBS, so die Versicherung weiter. Zudem hätten die eingeholten Gutachten keine Traumafolgestörungen ergeben. Ebenso müssten auch weitere Schicksalsschläge, die der Kläger erlitten hatte, als Ursachen für seine Störungen berücksichtigt werden.

Gegen die Entscheidung der Unfallversicherung erhob der Versicherte Klage und beantragte die Anerkennung einer PTBS als weitere Unfallfolge. Er befindet sich wegen der andauernden Erkrankung in psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung. Die Ausgangsinstanz versagte dem Kläger die Anerkennung des erlebten Gleissuizids als PTBS. Gegen die erstinstanzliche Entscheidung zog auch der Kläger – dieser im Wege einer Anschlussberufung – vor das LSG Hessen.

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LSG Hessen: Unfallereignis war wesentliche Ursache für die PTBS

Das LSG Hessen als Berufungsinstanz verurteilte die Beklagte  dazu, beim Kläger eine PTBS als weitere Unfallfolge anzuerkennen. Nach Auffassung des LSG Hessen sind die Kriterien für die Diagnose einer PTBS erfüllt. Die tragenden Überlegungen des Gerichts:
 
  • Unfall als schwerwiegendes Ereignis: Das Unfallereignis ist objektiv schwerwiegend. Zudem sind die Flash-Backs und Albträume bestätigt. Darüber hinaus vermeidet der Versicherte inzwischen Reize, die ihn an sein traumatisches Erlebnis erinnern. So meidet der Kläger vor allem Bahnsteige und Bahnhöfe.
  • Unfallereignis ursächlich für die PTBS: Die PTBS hätte sich dem LSG Hessen zufolge nicht ohne das Unfallerlebnis entwickelt. Die weiteren Ursachen, wie etwa der Tod des Bruders und weitere Schicksalsschläge, haben keine überragende Bedeutung. Insoweit berief sich das LSG auf die Darlegungen des gerichtlichen Sachverständigen. Für diese Ansicht spricht nach Meinung des Gerichts vor allem der Umstand, dass der Bruder des Versicherten erst ein Jahr nach dem Arbeitsunfall gestorben ist, und dass sich das psychische Befinden des Versicherten nicht verschlechtert hat. Damit sei insoweit auch keine Verschiebung der Wesensgrundlage des Klägers belegt.

  • Zum Schutzzweck der gesetzlichen Unfallversicherung: Mit dem Erlebnis des Gleissuizids hat sich auch eine Gefahr realisiert, die vom Schutzzweck der gesetzlichen Unfallversicherung umfasst ist. Dieses Geschehen hat beim Kläger die Entstehung der PTBS den Richtern aus Darmstadt zufolge so wesentlich geprägt, dass die etwaigen Mitursachen nur eine untergeordnete Bedeutung haben.
Das LSG Hessen hat die Revision nicht zugelassen.
 
Quelle: PM des LSG Hessen vom 02.06.2022 zum Urteil vom selben Tag – L 3 U 146/19


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(ESV/bp)