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Versorgung mit Arzneimitteln in der gKV 
07.07.2023

BSG: Arzneimittelsicherheit hat Vorrang – auch bei typischerweise tödlich verlaufender Erkrankung

ESV-Redaktion Recht
BSG: Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) hatte das streitgegenständliche Medikament negativ bewertet (Foto: Blackosaka und AllebaziB / Fotolia.com)
Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung (gKV) haben grundsätzlich keinen Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln, denen die Zulassung versagt wurde, weil die Zulassungsbehörde das betreffende Medikament negativ bewertet hat. Doch was gilt, wenn der Patient an einer Krankheit leidet, die in aller Regel tödlich verläuft? Hierüber hat das BSG kürzlich entschieden.


In dem Streitfall leidet der 18-jährige Kläger infolge einer Genmutation an der sogenannten „Duchenne-Muskeldystrophie“. Diese fortschreitende Krankheit führt typischerweise im frühen Erwachsenenalter zum Tod des Patienten. Der Kläger, der seit 2015 nicht mehr gehen kann, versprach sich von dem Arzneimittel „Translarna“ aber eine Besserung.
 
Seine gesetzliche Krankenkasse lehnte die Kostenübernahme für das Arzneimittel jedoch ab. Die Begründung: Dieses Arzneimittel sei nur für gehfähige Patienten zugelassen. Zwar habe der Hersteller die Erweiterung der Zulassung auf nicht mehr gehfähige Patienten beantragt – seine Anträge blieben aber aufgrund von negativen Bewertungen durch die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) ohne Erfolg.
 

Keine Einigkeit bei den Instanzgerichten

Daraufhin zog der Kläger vor das SG Mainz, das seine Klage mit Urteil vom 19.11.2020 (S 16 KR 173/20) abgewiesen hatte. Mehr Erfolg hatte er in der Berufungsinstanz – dem LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 04.02.2021 – L 5 KR 211/20). Nach Auffassung des LSG hat der Kläger nach § 2 Abs. 1a SGB V (siehe unten) einen Anspruch auf Versorgung mit „Translarna“. Demnach verspricht dieses Arzneimittel die nicht ganz fernliegende Aussicht auf einen spürbar positiven Verlauf der Erkrankung.
 
Zudem sei die Erweiterung der Indikation nicht aufgrund eines negativen Nutzen-Risiko-Verhältnisses abgelehnt worden, sondern wegen einer nicht aussagekräftigen Datenlage. Die weitere wissenschaftliche Erforschung der Wirksamkeit von „Translarna“ habe aber neue Hinweise auf eine positive Wirkung erbracht. Gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts wendete sich die beklagte Krankenkasse mit einer Revision an das BSG.

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BSG: „Translarna“ bietet keine hinreichenden Erfolgsaussichten


Der 1. Senat des BSG schloss sich der Auffassung des SG Mainz an und hob das Berufungsurteil des LSG Rheinland-Pfalz auf. Die wesentlichen Überlegungen des Senats:
 
  • Erleichterte Voraussetzungen auf Krankenbehandlung für Erkrankte in notstandähnlicher Situation: Versicherte, die sich wegen ihrer regelmäßig tödlichen Erkrankung in einer notstandähnlichen Situation befinden, können zwar unter erleichterten Voraussetzungen Ansprüche auf Krankenbehandlung haben. Dies gilt auch für Medikamente, deren Wirksamkeit medizinisch noch nicht voll belegt ist. Voraussetzung hierfür ist eine nicht ganz entfernte Heilungschance oder eine Aussicht auf eine positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf.
  • Aber – keine hinreichende Erfolgsaussicht: An der vorauszusetzenden Erfolgsaussicht fehlt es aber, wenn die Arzneimittelbehörde das betreffende Medikament nach einer inhaltlichen Prüfung im Zulassungsverfahren negativ bewertet hat. Die Arzneimittelzulassung hat nämlich die Funktion, die Patienten vor unkalkulierbaren Risiken schützen – und das Zulassungsverfahren bietet dem Senat zufolge eine besonders hohe Gewähr für Wissenschaftlichkeit und Unabhängigkeit der Prüfung. Darüber hinaus ist das Arzneimittelrecht gekennzeichnet durch ein strukturiertes Qualitätssicherungssystem und für Härtefälle auch Ausnahmeregelungen.
Quelle: PM des BSG vom 30.06.2023 zur Entscheidung vom 29.06.2023 – B 1 KR 35/21 R.


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Im Wortlaut: § 27 Abs. 1 SGB V (Krankenbehandlung) 
Versicherte haben Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfaßt [ … ]
 
3. Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln sowie mit digitalen Gesundheitsanwendungen, [...]

§ 2 Abs. 1a SGB V

Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, können auch eine von Absatz 1 Satz 3 abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Die Krankenkasse erteilt für Leistungen nach Satz 1 vor Beginn der Behandlung eine Kostenübernahmeerklärung, wenn Versicherte oder behandelnde Leistungserbringer dies beantragen. Mit der Kostenübernahmeerklärung wird die Abrechnungsmöglichkeit der Leistung nach Satz 1 festgestellt.

 
 (ESV/bp)