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Reform des Rechts der Behinderten 
29.07.2016

Muss der Begriff der Behinderung neu definiert werden?

ESV-Redaktion Recht
Muss der Behindertenbegriff stärker leistungsrechtlich definiert werden? (Foto: oneinchpunch/Fotolia.com)
Viele Organisationen fordern bei der Reform der Teilhabe behinderter Menschen eine Änderung von § 2 Absatz 1 SGB IX, meint Prof. Dr. Rainer Kessler. Vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) fragt er in der Fachzeitschrift SGb, ob diese Forderung berechtigt ist.

„Eine zukünftige leistungsrechtliche Begriffsdefinition muss den erweiterten sozialen Behinderungsbegriff im Sinne der UN-BRK aufgreifen und die Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren berücksichtigen”.

Mit diesem Zitat der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege eröffnet Kessler seinen Beitrag und meint, dass bestimmte Modelle bei der Definition der Behinderung eine wichtige Rolle spielen.

Persönliches medizinisches Defizit oder soziales Modell?

So werde zum Teil behauptet, dass der Behinderungsbegriff des SGB IX auf einem rein medizinischen Modell basiert. Danach sei die Behinderung lediglich ein persönliches Defizit. Demgegenüber lege die UN-BRK dem Begriff ein soziales Modell zu Grunde. Hiernach wäre die Behinderung ein gesellschaftlich verursachtes Problem.  

In einem strengen Kontrast hierzu gibt es Auffassungen, die jede Änderung von § 2 Absatz 1 SGB IX ablehnen. Dabei sind die Begründungen höchst unterschiedlich, fährt der Autor fort. So wären vor allem die kommunalen Spitzenverbände der Auffassung, dass bereits das geltende Recht den Anforderungen der UN-BRK genüge. 


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Kritik entzündet sich am Wortlaut 

  • Kritisiert werde, dass laut dem aktuellen Entwurf die Adjektive „voll” und „wirksam” in Verbindung mit der gleichberechtigten Teilhabe fehlen. 
  • Auch die Formulierung: „in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren” wird kritisch gesehen, meint Kessler. An dieser Stelle solle stattdessen die Formulierung der UN-BRK: „in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren” verwendet werden.
Im Wortlaut: 
§ 2 Absatz 1 SGB IX - Begriffsbestimmungen - in der Fassung des RegE vom 22.06.2016
(1) Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.

Anmerkung der Redaktion: Gegenüber der Fassung des RefE vom 28.04.2016 wurde im RegE in Satz 1, 2. HS das Wort „welche” durch das Wort „die” ersetzt.

Art. 1 Satz 2 UN-BRK
Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.

§ 2 Absatz 1 SGB IX – Behinderung (Aktuelle Fassung)
(1) Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.

Kritik schwer nachvollziehbar

Diese Kritikpunkte hält Kessler für schwer nachvollziehbar. So umfasse der Begriff „Kontextfaktoren” nach dem Sprachgebrauch der ICF auch Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren. Umweltfaktoren würden positiv und negativ wirken. Sie kämen dann ins Spiel, wenn von Barrieren die Rede ist.

Zudem fragt der Verfasser, welche hindernden Faktoren von der Formulierung: „einstellungs- und umweltbedingte Barrieren” ausgeschlossen, aber von der Formulierung „verschiedene Barrieren” erfasst werden sollen.  Er vermutet, dass es hierbei eher um das Selbstverständnis von Betroffenen geht.

Abschließend meint Kessler, dass Teilhabestörungen ohne jegliches medizinisches Substrat rechtlich unerheblich sind.

Den vollsändigen Beitrag finden Sie hier:
Prof. Dr. Rainer Kessler, Anmerkungen zur Reform des sozialrechtlichen Behinderungsbegriffs, SGb Ausgabe 7/2016

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Weiterführende Literatur
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(ESV/bp)