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Grundsicherung nach SGB II 
05.09.2017

Karlsruhe stärkt Rechte von ALG-II-Beziehern

ESV-Redaktion Recht
Auch im Eilverfahren: Keine Pauschalentscheidung über Leistungskürzungen (Foto: Lydia Geissler/Fotolia.com)
In welchem Umfang müssen die Sozialgerichte Kürzungen von ALG-II-Bezügen und deren Folgen für den Antragsteller im Eilverfahren prüfen? Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe hat hierüber in einem aktuellen Beschluss entschieden.

Der Beschwerdeführer bezieht Leistungen zur Grundsicherung nach SGB II. Das Jobcenter meinte, dass dieser mit einer weiteren Person in einer Bedarfsgemeinschaft lebte. Daher bewilligte die Behörde nur herabgesetzte Leistungen. Hiergegen wendete sich der Beschwerdeführer mit einem Eilantrag an das zuständige Sozialgericht (SG). Dieses verpflichtete das Jobcenter dazu, dem Beschwerdeführer die höheren Leistungen für einen Alleinstehenden einschließlich der Kosten für Unterkunft und Heizung vorläufig zu gewähren. Dennoch war dies nur ein Etappensieg. Das Jobcenter legte gegen den Beschluss des SG nämlich erfolgreich Beschwerde zum Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) ein.

LSG Nordrhein-Westfalen: Maßgebliches Kriterium für Eilbedürftigkeit ist akut drohende Obdachlosigkeit

Nach Auffassung des LSG fehlte es an dem Anordnungsgrund. Maßgebliches Kriterium hierfür wäre die drohende Wohnungs- oder Obdachlosigkeit. Diese, so das LSG weiter, wäre nach ständiger Rechtsprechung des LSG grundsätzlich erst bei einer fristlosen Kündigung des Mietverhältnisses und der Erhebung einer Räumungsklage durch den Vermieter anzunehmen. Da dieser aber noch keine Räumungsklage erhoben hatte, so das LSG weiter, drohe dem Antragsteller auch keine akute Wohnungs- oder Obdachlosigkeit. Für die Gewährung der vollen Leistungen für Unterkunft und Heizung fehle es damit an der notwendigen Eilbedürftigkeit.

Hierdurch sah sich der Beschwerdeführer in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Absatz 4 Satz 1 GG verletzt und legte gegen den Beschluss des LSG Verfassungsbeschwerde ein.

Im Wortlaut: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Art. 19 Absatz 4 Satz 1
(4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. (...)

BVerfG: Begründung des LSG zu pauschal

Der Erste Senat des BVerfG teilte die Auffassung des LSG nicht. Nach Auffassung der Richter aus Karlsruhe müssen die Sozialgerichte auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes anhand sämtlicher Umstände des Einzelfalls prüfen, ob tatsächlich ein Anordnungsgrund und damit die Eilbedürftigkeit vorliegt.

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Hierbei wäre Art. 19 Abs. 4 GG zu beachten, der einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz garantiert. Hierzu gehöre es auch, Maßnahmen der öffentlichen Gewalt zu unterbinden, von denen erhebliche Rechtsverletzungen ausgehen, und die durch die Hauptsacheentscheidung nicht mehr beseitigt werden können. Hierbei stellte der Senat folgende weitere Überlegungen an:
  • Wohnraum ist Bestandteil des Existenzminimums: Bei ihrer Wertung sahen die Verfassungshüter die eigene Wohnung als wichtigen Bestandteil des sozialen Existenzminimums an. Relevante Nachteile der Leistungskürzung sind insoweit nicht nur die akut drohende Wohnungs- oder Obdachlosigkeit. Entscheidend sei vielmehr, dass der Antragsteller bei einer wirksamen Kündigung des Mietverhältnisses aufgrund Zahlungsverzuges oder gar einer begründeten Räumungsklage den Verlust seiner Wohnung möglicherweise nicht mehr verhindern kann. 
  • Hauptsacheentscheidung kann zu spät kommen: Auch ein späteres Obsiegen im sozialrechlichen Hauptsacheverfahren, das ihm die vollen Wohnkosten zuspreche würde, kann dann für ihn insoweit nutzlos sein. In diesem Fall würde der vorläufige Rechtsschutz leerlaufen. 
Was aus der Entscheidung folgt
  • Das Interesse an einer vorläufigen Entscheidung ist ein Zusammenspiel aus der Schwere der Belastungen, die sich aus der Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes ergeben und der Wahrscheinlichkeit, dass diese Belastungen im Hauptsacheverfahren wieder rückgängig gemacht werden können. Je schwerer die drohende Belastung und je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, diese wieder zu umzukehren, desto größer ist die Eilbedürftigkeit.

  • Vorliegend war der Antragsteller aufgrund der Leistungskürzungen der Gefahr der wirksamen Kündigung des Wohnraummietvertrages wegen Zahlungsverzuges und einer Wohnungsräumung ausgesetzt. 

  • Trotz eines späteren etwaigen Obsiegens im sozialrechtlichen Hauptsacheverfahren hätte damit eine geringe Wahrscheinlichkeit bestanden, den Verlust der Wohnung ungeschehen zu machen.

  • Ein Verlust der Wohnung droht nach diesem Beschlusss also schon dann, wenn der Antragsteller aufgrund der Leistungskürzung Gefahr läuft, seine Mietverpflichtungen nicht mehr erfüllen zu können. 

Beschluss des BVerfG vom 01.08.2017 – AZ: 1 BvR 1910/12    

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Der SGG Sozialgerichtsgesetz Kommentar, herausgegeben von Dr. Tilman Breitkreuz und Dr. Wolfgang Fichte, beide Richter am Bundessozialgericht, behandelt alle praxisrelevanten Problemstellungen und bietet die bestmögliche Unterstützung für rechtssichere Entscheidungen und verschiedenste Gestaltungsmöglichkeiten. 

(ESV/bp)