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Armutsbekämpfung in Deutschland 
06.03.2018

Cremer: „Bezug von Sozialleistungen ist kein Armutsindikator“

ESV-Redaktion Recht
Armut: Als arm gilt, wer wenig am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann (Foto: Africa Studio/Fotolia.com)
Die öffentliche Diskussion um Armut und Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland wird lauter. Doch ab wann gilt jemand als arm und wie lässt sich Armut bekämpfen? Antworten hierauf gibt Prof. Dr. Georg Cremer in der Fachzeitschrift SGb.

„Neue Armut ist Erfindung des sozialistischen Jetsets!” Mit diesem Zitat von Helmut Kohl – laut Magazin „Stern“ vom 24.07.1986 (Seite 6) – eröffnet Cremer seinen Beitrag. Nach dieser Lesart gibt es deshalb keine Armut, weil der Staat Sozialhilfe leistet. Allerdings will Cremer hiermit nur verdeutlichen, wie sich die Debattenlage in der Zwischenzeit geändert hat. Gleichzeitig stellt er die Frage, wie Armut in einem reichen Land definiert werden soll.

Relative Armut

Dabei stößt Cremer sofort auf den Begriff der relativen Armut. Hierunter fallen Personen, die über so geringe Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Land, in dem sie leben, als Minimum angesehen wird. Allerdings müssten noch weitere Faktoren der Lebenslage des betroffenen Personenkreises erfragt werden. Als Grundorientierung innerhalb der EU gelte Folgendes: 
  • Arm ist danach derjenige, der in dem jeweiligen EU-Land weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. Die Grenze, so Cremer weiter, würde aber zwischen 40 und 60 Prozent variieren.
  • In Deutschland sei die Armutsquote zwar niedriger als im EU-Durchschnitt aber höher als in Skandinavien oder den Niederlanden.
Zudem, so der Autor weiter, würden Armut und Armutsrisiko oft als Synonyme genannt. Nach seiner Meinung wäre aber eine Differenzierung gerechtfertigt.

Hauptrisikogruppen für Armut

Die Personenkreise, die ein höheres Armutsrisiko tragen, teilt der Autor dann in folgende Gruppen ein:
  • Gering qualifizierte Personen
  • Alleinerziehende
  • Personen ohne kontinuierliche Erwerbsbiografie
  • Familien mit drei oder mehr Kindern
  • Migranten
Formal würden auch Auszubildende und Studenten hinzuzählen. Insoweit betont der Verfasser allerdings, dass es hier stark auf die konkrete Lebenssituation ankomme.

Bundeseinheitliche Armutsrisikoschwelle nicht aussagekräftig

Cremer kritisiert die bundeseinheitliche Armutsschwelle, die regionale Unterschiede nicht berücksichtigt. Regionale Unterschiede würden sich aber deutlich relativieren, wenn man das Mietpreisgefälle mit einbeziehen würde.

Hartz IV erklärt wachsendes Armutsrisiko nicht

Zur Entwicklung des Armutsrisikos seit der Wiedervereinigung weist Cremer zunächst auf einen leichten Rückgang durch Rentenerhöhungen hin. Anschließend sei dieses Risiko jedoch leicht angestiegen durch Öffnung der Wirtschaftsräume in Osteuropa sowie dem damit verbundenem Lohn-und Wettbewerbsdruck. Der Gesetzgeber habe hierauf mit der Agenda 2010 regiert und durchaus beschäftigungspolitische Erfolge erzielt, allerdings um den Preis sinkender Löhne. Hierbei wiederum hätten steuerliche Entlastungen mittlerer und höherer Einkommen zu einer höheren Ungleichheit geführt.

Öffnet sich die Schere weiter?

Die Einkommensungleichheit im Vergleich zu 1995 und 2000 habe zwar deutlich zu genommen. Entgegen der allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung hält Cremer den Trend aber für gestoppt. So sieht er gewisse Sorgen zwar als berechtigt an. Er warnt aber vor irrationalen Ängsten und hält diese für unbegründet. 

Transferbezug kein Armutsindikator

Im Anschluss hieran widmet sich der Verfasser dem Thema Grundsicherung und Hartz IV. Beide Sicherungssysteme würden oft als zusätzliche Armutsindikatoren benannt. Gleichwohl hält er deren schlechten Ruf für unbegründet und meint, dass diese Systeme nicht diskreditiert, sondern weiterentwickelt werden sollten. Gewisse Inkonsistenzen wären allerdings abzubauen, was er an folgenden Beispielen illustriert:
  • Kosten für Haushaltsstrom: Eine Korrektur würde den Regelbedarf von Alleinstehenden um 60 Euro erhöhen. Insoweit beruft sich Cremer auf den Caritasverband.
  • Flexibiltätsreserven: Zudem hält er eine Einführung von Flexibilitätsreserven um fünf Prozent für notwendig
Insgesamt wäre so eine Erhöhung um 80 Euro gerechtfertigt. Zwar würde dies dazu führen, dass die Zahl der Hilfeempfänger steigt. Eine Interpretation von Transferleitungen als Armutsindikatoren betrachtet Cremer allerdings als fehlgeleitet.  

Politik der kleinen Schritte

Er schließt mit dem Hinweis auf das Politikideal von Popper. Danach kann auch Sozialpolitik nur Stückwerk der reformerischen Alltagsarbeit sein. Ohne diese kleinen Schritte zäher Reformen könne Politik nicht vorankommen.

Kernthesen von Georg Cremer: Fachzeitschrift SGb, Ausgabe 02-2018
  • Die 60-Prozent-Grenze ist nur bedingt als sozialpolitische Norm geeignet;
  • Sanktionen im SGB II sind grundsätzlich notwendig, aber unverhältnismäßig;
  • Die Gewährung der Hilfen sollte weiterhin von der Nutzung der Selbsthilfeoptionen anhängig gemacht werden;
  • Arbeit muss sich auch für das Alter lohnen;
  • Armutsprävention funktioniert durch Befähigung.
Die oberste Instanz im Sozialrecht

SGb Die Sozialgerichtsbarkeit

Herausgeber: Prof. Dr. Peter Axer und Prof. Dr. Peter Becker

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(ESV/bp)