BVerfG: Sanktionen bei Hartz IV teilweise verfassungswidrig
Ausgangspunkt war das Sozialgericht (SG) Gotha. Die Richter aus Thüringen halten die Sanktionen für verfassungswidrig. Sie sehen in diesen unter anderem das menschenwürdig Existenzminimum verletzt, das grundgesetzlich geschützt ist. So würden den Betroffenen ggf. Schulden, Obdachlosigkeit, Krankheit oder gar Hunger drohen. Das SG hat ein Verfahren daher ausgesetzt, um die Sanktionen durch die Verfassungshüter aus Karlsruhe prüfen zu lassen.
In dem Streitfall hatte ein arbeitsloser Mann aus Erfurt das Jobcenter verklagt. Das Amt hatte dem Kläger im Jahr 2014 eine Stelle als Lagerarbeiter zugewiesen. Er wollte jedoch lieber im Verkauf arbeiten und lehnte die Stelle ab. Daher kürzte ihm das Jobcenter seine ALG-2-Leistungen zunächst für drei Monate um 30 Prozent. Den Kläger motivierte dies aber nicht. Weil er auch einen Gutschein zur Erprobung bei einem Arbeitgeber nicht eingelöst hatte, strich das Jobcenter das Arbeitslosengeld im selben Jahr um weitere 30 Prozent.
Es geht es also um die Frage, was die Gemeinschaft von Menschen fordern darf, bevor sie Sozialleistungen erhalten, und was diese auch ggf. durch Sanktionen erzwingen darf.
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BVerfG: Sanktionssystem teilweise verfassungswidrig
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die Höhe der Leistungsminderung nicht beanstandet, soweit die Kürzung 30 Prozent des Regelbedarfs nicht überschreitet. Allerdings hat er einige aktuelle gesetzliche Regelungen in folgenden Bereichen für verfassungswidrig erklärt.- Mehr als 30 Prozent Leistungsminderung: Dies betrifft die Fälle, in denen die Minderung nach mehreren Pflichtverletzungen 30 Prozent des Regelbedarfs übersteigt. Dem Senat zufolge ist es verfassungswidrig, wenn die Minderung wegen einer ersten und einer wiederholten Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres mehr als 30 Prozent des Regelbedarfs ausmacht. Da keine tragfähigen Erkenntnisse zur Eignung und Erforderlichkeit einer solchen Kürzung vorliegen, hält der Senat jedenfalls eine Kürzung von 60 Prozent für nicht mit dem GG vereinbar.
- Keine zwingende Minderung bei außergewöhnlichen Härten: Mit dem Grundgesetz unvereinbar sind auch solche Sanktionen, die den Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung auch bei außergewöhnlichen Härten zwingend mindern. Somit darf der Gesetzgeber nicht für alle Leistungsminderungen eine starre Dauer von drei Monaten vorgeben.
- Kein vollständiger Leistungswegfall: Die Sanktionen dürfen nicht zu einem vollständigen Wegfall der Leistungen führen.
Die tragenden Erwägungen des Senats
Dem Senat zufolge ist der Gesetzgeber prinzipiell dazu berechtigt, existenzsichernde Leistungen nur dann zu gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können. Der Gesetzgeber darf also erwerbsfähigen Beziehern von Arbeitslosengeld II zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen. Auch darf er die Verletzung solcher Pflichten dadurch sanktionieren, dass er vorübergehend staatliche Leistungen entzieht. Aber das gilt nicht schrankenlos. In den Leitsätzen seines Urteiles führt der Senat hierzu wörtlich aus:Die weiteren Überlegungen der Karlsruher Richter:
- Verhältnismäßigkeit: So gelten dem Senat zufolge strenge Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit. Diese folgen aus den außerordentlichen Belastungen, die aus den Sanktionen entstehen.
- Eingeschränkter Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers: Dies führt nach Auffassung des Senats dazu, dass der sonst weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers insoweit eingeschränkt ist. Die Folge: Je länger die Regelungen in Kraft sind, desto weniger darf der Gesetzgeber sich allein auf allgemeine Annahmen stützen. Mit der Zeit, so der Senat weiter, könne der Gesetzgeber deren Wirkungen nämlich fundierter einschätzen.
- Wiedererhalt der Leistungen: Auch muss es den Betroffenen möglich sein, die gekürzte Leistung unter zumutbaren Voraussetzungen wieder zu erlangen.
Quelle: PM des BVerfG vom 5.11.2019 zum Urteil vom selben Tag – 1 BvL 7/16
HAUCK/NOFTZ Modul SGB II: Grundsicherung für Arbeitsuchende Das seit Neuestem in Gesamtherausgeberschaft von Hauck/Noftz/Oppermann erscheinende Werk zum SGB II gehört nicht von ungefähr zu den vom Bundessozialgericht meistzitierten Kommentaren:
Inhaltliche Vorzüge der Datenbank:
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17.01.2019 |
Bundesverfassungsgericht befasst sich mit Rechtmäßigkeit von Hartz IV-Sanktionen | |
Darf der Staat das Existenzminimum kürzen und wenn ja, in welchem Umfang? Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) muss sich mit einer entsprechenden Richtervorlage des Sozialgerichts (SG) Gotha auseinandersetzen. Die Antworten werden das Hartz IV-Sanktionssytem wohl nicht unerheblich verändern. mehr … |
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(ESV/bp)