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Nachgefragt bei Stephan Brandenburg und Gerhard Mehrtens 
07.08.2020

Stephan Brandenburg und Gerhard Mehrtens: „Beruflich erworbene COVID-19-Erkrankungen können unter bestimmten Voraussetzungen als Berufskrankheit oder als Arbeitsunfall anerkannt werden.“

ESV-Redaktion Recht
Stephan Brandenburg und Gerhard Mehrtens: Der Nachweis eines Verursachungszusammenhangs zwischen dem versicherten erhöhten Infektionsrisiko und dem Eintritt der Erkrankung ist erbracht, wenn die berufliche Verursachung überwiegend wahrscheinlich ist. (Foto: Privat)
Das Corona-Virus hat Deutschland fest im Griff. Grundsätzlich kann eine COVID-19-Erkrankung daher als Berufskrankheit oder als Arbeitsunfall anerkannt werden. Aufgrund ihrer langjährigen Praxis als Direktoren einer Berufsgenossenschaft haben Prof. Dr. jur. Gerhard Mehrtens und Prof. Dr. jur. Stephan Brandenburg die Voraussetzungen hierfür im Interview mit der ESV-Redaktion erörtert.


Herr Prof. Dr. Mehrtens, Herr Prof. Dr. Brandenburg, wann kann bei einer COVID-19-Erkrankung ein Schutz in der gesetzlichen Unfallversicherung bestehen?

Gerhard Mehrtens und Stephan Brandenburg: Generell kann man sagen, dass eine COVID-19-Erkrankung als ein Versicherungsfall in der gesetzlichen Unfallversicherung – also als ein Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit – gewertet werden kann, wenn die Infektion mit dem Corona-Virus SARS-CoV-2 nachweislich im Rahmen einer versicherten Tätigkeit (z.B. der Ausübung einer Beschäftigung als Arbeitnehmer/-in) erfolgt ist und die weiteren rechtlichen Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind.

Zu den Personen
  • Prof. Dr. jur. Gerhard Mehrtens, Direktor der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege a.D.
  • Prof. Dr. jur. Stephan Brandenburg, Direktor der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege
Beide Interviewparnter sind Autoren des Handkommentars Die Berufskrankheitenverordnung (BKV), erschienen im Erich Schmidt Verlag


Die Einordnung als Berufskrankheit kommt nach BK-Nr. 3101 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) in Betracht. Was sind die grundsätzlichen Voraussetzungen hierfür?

Gerhard Mehrtens und Stephan Brandenburg: Bei einer COVID-19 Erkrankung kommt allein die Berufskrankheit der Nr. 3101 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) in Betracht, die wie folgt beschrieben ist:

„Infektionskrankheiten, wenn der Versicherte im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium tätig oder durch eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße besonders ausgesetzt war.“

COVID-19-Erkrankungen fallen daher dann unter die beschriebene Berufskrankheit, wenn sie bei versicherten Personen auftreten, die infolge der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit in einem der ausdrücklich genannten Bereiche (Tätigkeiten im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege, in einem Laboratorium oder bei Tätigkeiten bei denen versicherte Personen der Infektionsgefahr in einem ähnlichen Maße besonders ausgesetzt waren) einer gegenüber der allgemeinen Bevölkerung wesentlich erhöhten Infektionsgefahr ausgesetzt waren.

Neben einer Tätigkeit in einem der genannten Bereiche, setzt die Berufskrankheit den Nachweis einer Infektionskrankheit im sog. Vollbeweis voraus. Eine Antikörperbildung nach Aufnahme eines Infektionserregers ohne jegliche klinischen Symptome stellt noch keine Infektionskrankheit im Sinne des Berufskrankheitenrechts dar. Die erforderlichen Symptome müssen allerdings keineswegs so ausgeprägt sein, dass damit eine ärztliche Behandlungsbedürftigkeit verbunden ist. Es reichen somit auch geringfügige klinische Symptome, wie sie im Zusammenhang mit dem SARS-COV-2 Erreger erfreulicherweise häufig festzustellen sind zur Erfüllung des Krankheitsbegriffs bzw. für eine Anerkennung als Berufskrankheit aus.

Da die Unfallversicherung allein für die Verwirklichung eines versicherten (i.d.R. beruflichen) Infektionsrisikos einzustehen hat, ist auch immer der Nachweis eines Verursachungszusammenhangs zwischen dem versicherten erhöhten Infektionsrisiko und dem Eintritt der Erkrankung festzustellen. Dieser Nachweis ist erbracht, wenn die berufliche Verursachung überwiegend wahrscheinlich ist. Dieses Erfordernis ist in der Regel gegeben, wenn die betroffene Person während des in Frage kommenden Ansteckungszeitraums bei ihrer versicherten Tätigkeit Kontakt zu mindestens einer nachgewiesenen Infektionsquelle (z.B. Patienten, Kollegen, Besucher, Untersuchungsmaterialien usw.) hatte, nach der Art des Kontaktes eine Infektionsübertragung dabei konkret möglich war und Umstände aus dem unversicherten Bereich oder eine ausgeprägte Ubiquität des Infektionserregers einen Schluss auf die Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit nicht entgegenstehen.
 
Während die von der BK-Nr. 3101 zuerst genannten Tätigkeitsalternativen Gesundheitsdienst, Wohlfahrtspflege sowie Laboratorien noch verhältnismaß klar beschrieben werden, umfasst die vierte Tatbestandsalternative andere Tätigkeiten, die der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße besonders ausgesetzt waren. Welche Tätigkeiten werden im Falle einer COVID-19-Erkankung von dieser vierten Alternative umfasst?

Gerhard Mehrtens und Stephan Brandenburg: Die vierte Alternative der BK-Nr. 3101 kommt vor allem dann zum Tragen, wenn versicherte Personen zwar nicht in einem der in den ersten drei Alternativen beschriebenen Bereichen tätig sind, ihre Beschäftigungen aber dennoch bestimmungsgemäß mit einem intensiven und unmittelbaren Körperkontakt (z.B. Masseure, Fußpfleger, Mitarbeiter von Sicherheitsdiensten an Flughäfen usw.) oder mit sog. „gesichtsnahen Tätigkeiten“ (z.B. Friseure, Kosmetiker, Optiker usw.) verbunden sind.

Ob daneben noch weitere Tätigkeiten, z.B. mit kontaminierten Materialien für die Anwendung der vierten Tatbestandsalternative in Betracht kommen können, ist noch ungeklärt; es fehlt insoweit noch an entsprechenden epidemiologischen Grundlagen.


Die Berufskrankheitenverordnung (BKV)


Damit Sie zu keiner Zeit ein Risiko bei der Bewertung des Einzelfalls eingehen und schnell richtige Lösungen finden: Mehrtens/Brandenburg, Die Berufskrankheitenverordnung (BKV). Der kompakte Handkommentar bietet alles, was Sie als Jurist oder Nichtjurist für Ihre Entscheidungen brauchen – eine übersichtliche Darstellung sämtlicher rechtlicher und medizinischer Aspekte und leicht verständliche Erläuterungen, die immer auf dem neuesten Stand sind!

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  • Rechtsfragen bei Anerkennung einer CoronavirusSARS-CoV-2-Inf
  • Überarbeitung des Kapitels „Tätigkeit mit besonderer Infektionsgefahr“ (Infektionskrankheiten, wenn der Versicherte im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium tätig oder durch eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße besonderes ausgesetzt war)
Bewährt: »Der Kommentar ist eine zuverlässige Entscheidungshilfe für die tägliche Praxis und gerade für diejenigen, die sich mit der Anzeige und Beurteilung von Berufskrankheiten beschäftigen, unverzichtbar und kann dem entsprechenden Personenkreis nur nachdrücklich und ohne Einschränkung empfohlen werden.« 

S. Letzel, Mainz, in: Arbeitsmedizin Sozialmedizin Umweltmedizin (ASU) – Zeitschrift für medizinische Prävention, 4/2017


Inwieweit kann der Nachweis eines unmittelbaren Kontaktes während der versicherten Tätigkeit mit nachweislich infizierten Personen zur BK-Anerkennung führen?


Gerhard Mehrtens und Stephan Brandenburg: Der Nachweis eines unmittelbaren Kontaktes bei der versicherten Tätigkeit mit gesichert infektiösen (Index-) Personen kann zur Anerkennung einer Berufskrankheit führen. Da die Symptome bei COVID-19 unspezifisch sind, ist dieser Nachweis grundsätzlich durch einen zeitnahen Erreger-Test zu erbringen. 

Wurde dieser Test nicht durchgeführt, erbringt aber ein später durchgeführter Antikörper-Test den Nachweis einer durchgemachten Infektion, kommt es auf die Umstände des Einzelfalles an, ob die betreffende Person als Indexperson geeignet ist. Kriterien sind dabei insbesondere die Art der Krankheitssymptome zum Zeitpunkt der zu beurteilenden Kontaktsituation und das zeitliche Intervall zwischen dem Kontakt und dem Antikörpertest.

Auch in gefährdeten Berufen wird der Nachweis, dass die Infektion beruflich bedingt war, nur schwer zu führen sein. Gibt es Beweiserleichterungen für infizierte Beschäftigte? In Ihrem Werk „Die Berufskrankheitenverordnung (BKV) - Lieferung 1/20“ deuten Sie an, dass es diesbezüglich Vergleichbarkeiten mit anderen Krankheiten gibt – zum Beispiel mit der Tuberkulose. Können Sie dies näher erläutern?

Gerhard Mehrtens und Stephan Brandenburg: Lässt sich bezüglich der Kontakte im versicherten Umfeld ein Verdacht, dass es sich um infektiöse Quellen handelt, nicht bestätigen, kann auf den bloßen Verdacht allein die Wahrscheinlichkeit eines Kausalzusammenhangs nicht gestützt werden.

Die Häufigkeit und Intensität von Kontakten zu infektionsverdächtigen Quellen, kann aber wesentlich für die Prüfung sein, ob eine Beweiserleichterung wegen einer durch die Art der konkret ausgeübten Tätigkeit bedingten besonders erhöhten Infektionsgefahr in Frage kommt.

Auch ohne konkreten Nachweis von Kontakten mit einer nachgewiesenen Infektionsquelle kann der Kausalzusammenhang bei Beschäftigten im Gesundheitsdienst wahrscheinlich sein, soweit Versicherte während der in Frage kommenden Ansteckungszeit einer besonderen über das normale Maß hinausgehenden Infektionsgefahr ausgesetzt waren. Zur Konkretisierung einer in diesem Sinne für die Wahrscheinlichkeit der Kausalität ausreichenden Gefahrerhöhung ist zwischen der Verbreitung der Infektionskrankheit und dem Übertragungsweg zu unterscheiden.

Hinsichtlich des Übertragungsweges von SARS-CoV-2 besteht eine Vergleichbarkeit mit dem von Mycobacterium tuberculosis, sodass es sich derzeit anbietet, in Anlehnung an die für die Tuberkuloseinfektion vorliegenden Erkenntnisse bei COVID-19 von einer besonderen über das normale Maß hinausgehenden Infektionsgefahr auszugehen.

Erkenntnisse aus epidemiologischen Untersuchungen zu einer erhöhten Erkrankungsinzidenz und -prävalenz mit COVID-19 bei bestimmten Tätigkeiten im Gesundheitsdienst werden erst zukünftig vorliegen können. Sofern sich dabei ergeben sollte, dass von weitaus höheren Infektionszahlen auszugehen ist, als bisher angenommen wird, muss die Reichweite von Beweiserleichterungen gegebenenfalls neu justiert werden. Außerdem kann im Einzelfall ein nachweislich massives Infektionsgeschehen (sog. Ausbruchsgeschehen) im Betrieb ausreichen, um im Sinne einer Beweiserleichterung von einer beruflich verursachten Infektion auszugehen, auch wenn sich ein konkreter Kontakt mit einer Indexperson nicht ermitteln lässt. 

Wann und unter welchen Voraussetzungen kann eine COVID-19-Erkrankung als Arbeitsunfall anerkannt werden?

Gerhard Mehrtens und Stephan Brandenburg: Erfolgt eine Infektion mit dem Corona-Virus SARS-CoV-2 in Ausübung einer Beschäftigung, kann eine sich daraus ergebende COVID-19-Erkrankung auf der Grundlage der aktuellen Erkenntnisse auch einen Arbeitsunfall darstellen. Dies kommt immer dann in Betracht, wenn die Infektion nicht in einem Bereich erfolgte, der von der BK-Nr. 3101 erfasst wird. Dies betrifft Konstellationen, in denen sich der intensive und direkte Kontakt zu infizierten Personen nicht bestimmungsgemäß, sondern vielmehr situativ aus der versicherten Tätigkeit ergibt (Beispiel: Infektion eines Beschäftigten während einer dienstlich veranlassten Bahnreise bei einem anderen Fahrgast, der in unmittelbarer Nähe sitzt).

Auch die Anerkennung eines Arbeitsunfalls setzt in der Regel einen nachgewiesenen intensiven Kontakt mit einer infizierten Indexperson voraus. Maßgeblich sind dabei im Wesentlichen die Häufigkeit, die Dauer sowie die Intensität des Kontaktes. Lässt sich keine konkrete Indexperson ermitteln, kann – wie auch bei der Berufskrankheit – ein Ausbruchsgeschehen in einem Betrieb im Einzelfall zu einem erleichterten Nachweis der beruflichen Verursachung führen.

Im Gegensatz zu einer Berufskrankheit kommt die Anerkennung eines Arbeitsunfalls auch dann in Betracht, wenn die versicherte Person sich auf dem Weg zur oder von der Arbeit infiziert hat. In bestimmten Konstellationen kann auch eine Infektion beim Kantinenbesuch oder beim Aufenthalt in einer Gemeinschaftsunterkunft ausnahmsweise versichert sein, wenn die besondere Infektionsgefährdung dem unternehmerischen Verantwortungsbereich zugerechnet werden muss.

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(ESV/bp)