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Teilnahme an Gerichtsverhandlung per Videokonferenz 
18.08.2021

LSG München schränkt Anwendungsbereich von Videoverhandlungen an Sozialgerichten ein

ESV-Redaktion Recht
LSG München konkretisiert Voraussetzungen für Teilnahme an mündlicher Gerichtsverhandlung per Videoübertragung (Foto: Mike Fouque / stock.adobe.com)
Die Voraussetzungen für den Einsatz von Videotechnik bei Gerichtsverhandlungen sind umstritten. Über die Möglichkeiten der Teilnahme eines Verfahrensbeteiligten an einer mündlichen Verhandlung per Videokonferenz hat nun das LSG München in einem kürzlich veröffentlichten Beschluss entschieden.


In dem Streitfall wollte der 69-jährige Kläger, der in Österreich lebt, aus gesundheitlichen Gründen nicht persönlich zum Verhandlungstermin am 16.06.2021 erscheinen. Daher beantragte er am 14.06.2021 per Fax seine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung über eine Videokonferenz. Aufgrund seines fortgeschrittenem Alters und einer fehlenden Impfung hatte der Kläger Bedenken aus Österreich anzureisen.

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LSG München: Frage der technischen Voraussetzungen für virtuelle Teilnahme an mündlicher Verhandlung hätte früher geklärt werden können

Sein Antrag hatte vor dem 13. Senat des LSG München keinen Erfolg. Der Senat lehnte den Antrag ab. Dabei betonte er eingangs, dass die Gerichte ihre Entscheidungen nach § 110a SGG nach pflichtgemäßem Ermessen treffen müssen. Im Rahmen der Abwägung, so der Senat weiter, seien zunächst die Motive für die Beantragung zu berücksichtigen. Hierzu gehören vor allem gesundheitliche Gründe des Antragstellers. Zudem seien noch die Eignung der Technik einschließlich der technischen Kapazitäten des Teilnehmers, Datenschutzüberlegungen sowie die Zuverlässigkeit des Teilnehmers mit in die Wertung einzubeziehen. Hierzu gehören auch Risiken der Manipulation und der unerlaubten Ton-oder Video-Aufnahme der Verhandlung. Im Weiteren ließ sich der Senat dann von folgenden Erwägungen leiten:

  • Wohnung des Beteiligten grundsätzlich kein geeigneter Ort für Teilnahme per Videokonferenz: Möchte der Teilnehmer, der anwaltlich nicht vertreten ist, von seiner Wohnung aus per Videoschaltung an der mündlichen Verhandlung teilnehmen, scheidet die Teilnahme nach Senatsauffassung regelmäßig aus, weil die Wohnung des Beteiligten kein geeigneter Ort sein soll. Dies ist zumindest dem 4. Leitsatz der Entscheidung zu entnehmen.
  • Keine Gewährleistung der Einhaltung des Aufzeichnungsverbots: Die mangelnde Eignung der Privatwohnung leitet der Senat wohl daraus ab, dass das Aufzeichnungsverbot bei einer Teilnahme von der Wohnung des Beteiligten aus nicht überwacht werden kann.
  • Technische Voraussetzungen für Teilnahme über Video im konkreten Verfahren ungeklärt: Für die Teilnahme per Video müssen zudem die technischen Voraussetzungen erfüllt sein. Insoweit hatte der Kläger schon nicht dargelegt, von welchem konkreten Ort aus er teilnehmen wollte, dass er die technischen Voraussetzungen für die Übertragung erfüllt und dass der Ort für die Teilnahme an der Videokonferenz – etwa nach Lage und Größe – ausnahmsweise doch geeignet ist. In dem betreffenden Verfahren hatte sich der Kläger erstmals am 02.06.2021 über Möglichkeiten einer Videoteilnahme erkundigt. Erst mit Fax vom 14.06.2021, also zwei Tage vor dem Verhandlungstermin, stellte der Kläger dann per Fax seinen Antrag auf Teilnahme per Videokonferenz. Das Fax kam jedoch von einer Anwaltskanzlei, die nicht am Verfahren beteiligt war. Diese Kanzleianschrift konnte nach Senatsauffassung deshalb nicht als Zustelladresse dienen. Die Folge: Der Kläger war nur schriftlich über die Post in Österreich erreichbar. Nach allem war dem Senat zufolge keine rechtzeitige Klärung der technischen und organisatorischen Voraussetzungen für eine Video-Teilnahme des Klägers mehr möglich. 


Zu den Gesundheitsrisiken des Klägers

Auch die vom Kläger angeführten gesundheitlichen Bedenken ließen die Richter aus München nicht gelten, und zwar im Wesentlichen mit folgender Begründung:

  • Grundsätzlich Verweisung auf Vertretung durch Prozessbevollmächtigten: Beantragt der Beteiligte seine Teilnahme per Videokonferenz aus gesundheitlichen Gründen, hat der dennoch keinen Rechtsanspruch. Insoweit kann er grundsätzlich auf die Vertretung durch einen Prozessbevollmächtigten verwiesen werden.
  • Geringes Infektionsrisiko: Aufgrund der zum Zeitpunkt der Entscheidung niedrigen Inzidenzwerte und der trotzdem aufrecht erhaltenen Schutz- und Hygienemaßnahmen bei öffentlichen Verkehrsmitteln und auch im Gericht meinte das LSG, dass der Kläger bei einer Teilnahme am Termin vor Ort keinen ernsten Gesundheitsrisiken ausgesetzt ist. Zudem hatte er dem LSG zufolge, von seinem Alter abgesehen, keine gesundheitlichen Risikofaktoren vorgetragen.
  • Erscheinen der Tochter des Antragstellers nicht ausgeschlossen: Selbst dann, wenn der Kläger aus gesundheitlichen Gründen nicht persönlich zum Termin erscheinen könnte, hat er dem LSG zufolge keinen Anspruch darauf, dass er per Videokonferenz teilnehmen darf. In dem Streitfall hatte der Kläger nämlich schriftlich bestätigt, dass er im Verfahren durch seine Tochter unterstützt und vertreten wird. Diese nahm schon im vorangegangenen Verfahren für den Kläger einen mündlichen Verhandlungstermin wahr. Für den aktuellen Termin, so das LSG weiter, fehlte es an dem Vorbringen des Klägers, dass seine Tochter nicht anreisen könne. 
Der Beschluss ist unanfechtbar.

Quelle: Beschluss des LSG München vom 16.06.2021 – 13 R 201/20

Anmerkungen der Redaktion (Ass. jur. Bernd Preiß)
Die Auffassung des Senats, nach der die Teinahme an einer mündlichen Verhandlung generell schon dann nicht in Betracht kommt, wenn der Teilnehmer von zu Hause aus teilnehmen möchte, erscheint wenig überzeugend. Diese Auffassung lässt sich weder aus der Systematik von § 110a SGG noch aus dessen Wortlaut herleiten. Für diese Auffassung spricht auch nicht das Aufnahmeverbot: In Zeiten von Tablets und Smartphones kann nämlich jede anwesende Person bei Präsenzterminen die Verhandlung aufzeichnen. Etwas anderes mag gelten, wenn dem Gericht Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der betreffende Teilnehmer gegen das Aufzeichnungsverbot verstoßen wird. Dies wäre dann aber eine Frage des Ermessens auf der Rechtsfolgenseite.

Ebenso wenig hilfreich ist die Ansicht, dass die Tochter des Klägers den anstehenden Termin wahrnehmen könnte. Daraus, dass sie dies schon einmal getan hat, folgt nicht automatisch, dass sie künftig alle Termine wahrnehmen wird. 

Darüber wird in der Sozialgerichtsbarkeit ein gesteigertes Bedüfnis für eine Teilnahme von Beteiligten über Videokonferenzen vorliegen – denn gerade in diesem Gerichtszweig gehören viele Kläger zu einer Risikogruppe oder sind in ihrer Gesundheit beeinträchtigt.

Gemessen an dem Hintergrund, dass die Pandemie längst nicht besiegt ist, und dass auch die Gerichte dem digtalen Wandel Rechnung zu tragen haben, verwundert es, dass der 13. Senat des LSG München die geltenden Vorschriften äußerst restriktiv auslegt. 

Am Ergebnis im konkreten Einzelfall werden diese Überlegungen aber nichts ändern: Die Ansicht des Senats, dass sich der Kläger deutlich früher um die Klärung der technischen Voraussetzungen für eine virtuelle Teilnahme hätte kümmern können, erscheint durchaus vertretbar.


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Im Wortlaut: § 110a SGG - Absätze 1 bis 3
(1) Das Gericht kann den Beteiligten, ihren Bevollmächtigten und Beiständen auf Antrag oder von Amts wegen gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Die Verhandlung wird zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen.

(2) Das Gericht kann auf Antrag gestatten, dass sich ein Zeuge oder ein Sachverständiger während einer Vernehmung an einem anderen Ort aufhält. Die Vernehmung wird zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen. Ist Beteiligten, Bevollmächtigten und Beiständen nach Absatz 1 Satz 1 gestattet worden, sich an einem anderen Ort aufzuhalten, so wird die Vernehmung auch an diesen Ort übertragen.

(3) Die Übertragung wird nicht aufgezeichnet. Entscheidungen nach Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2 Satz 1 sind unanfechtbar.

Hinweis der Redaktion: Pandemiebedingt hatte der Gesetzgeber durch Artikel 4 SozSchPG II vom 20.05.2020 BGBl. I S. 1055 (Nr. 24) den neuen Paragrafen 211 SGG eingeführt. Diese Norm wurde mit Wirkung zum 01.01.2021 durch Artikel 5 desselben Gesetzes „Weitere Änderung des Sozialgerichtsgesetzes“ wieder aufgehoben.

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(ESV/bp)