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EU-Freizügigkeit und Grundsicherung für Arbeitsuchende 
22.07.2022

SG Berlin zu Hartz-IV-Leistungen für ehemalige Prostituierte, die ihre Tätigkeit aufgegeben haben

ESV-Redaktion Recht
SG Berlin: Wer schon als selbständiger Unionsbürger in einem anderen EU-Land aufenthaltsberechtigt war, kann dort Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende beziehen (Foto: studio v-zwoelf / stock.adobe.com)
Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende sind für Bürger aus anderen EU-Ländern ausgeschlossen, wenn sich deren Aufenthaltsrecht ausschließlich auf die Arbeitsuche stützt. Aber was gilt für ehemalige Prostituierte, wenn diese ihre Tätigkeit in Deutschland aufgegeben haben? Hierüber hat das SG Berlin aktuell entschieden.


In dem Streitfall kam die 1990 geborene bulgarische Klägerin im Jahr 2014 nach Berlin und war dort – steuerlich angemeldet – auf dem Straßenstrich als selbständige Prostituierte tätig. Ihr Gewerbe beendete sie im Juli 2019. Sie war bereits mit ihrem zweiten Kind schwanger und empfand die Tätigkeit für sich als nicht mehr zumutbar. Die Klägerin bezog bis dahin aufstockende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes vom Jobcenter Berlin Lichtenberg.
 

Jobcenter: Klägerin hat ihre Tätigkeit bewusst und freiwillig aufgegeben


Für die Zeit ab Oktober 2020 lehnte das Job-Center die Weiterbewilligung der Grundsicherungsleistungen ab. Nach Auffassung der Behörde hat die Klägerin nämlich nur noch ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche, sodass sie vom Leistungsbezug ausgeschlossen wäre. Die weitere Begründung: Sie habe ihre Tätigkeit bewusst aufgegeben, um sich beruflich neu zu orientieren. Deshalb liege keine unfreiwillige Arbeitsaufgabe vor. Gegen den Ablehungsbescheid zog die Klägerin vor das SG Berlin.
 
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SG Berlin: Tätigkeit als Prostituierte ist objektiv unzumutbar

Ihre Klage hatte Erfolg. Das SG Berlin hat den Beklagten verurteilt, der Klägerin und ihren beiden Kindern für Oktober 2020 bis Mai 2022 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes zu gewähren. Die weiteren tragenden Gründe des SG:
 
  • Sexuelle Dienstleistung kann EU-Aufenthaltsrecht begründen: Nach Auffassung des SG Berlin kann auch das Erbringen von sexuellen Dienstleistungen eine selbständige Tätigkeit sein, die ein EU-Aufenthaltsrecht in Deutschland begründet. Zwar sind EU-Bürger von Jobcenter-Leistungen der Grundsicherung ausgeschlossen, wenn sich ihr Aufenthaltsrecht ausschließlich auf die Arbeitsuche in dem betreffenden Land stützt. Wer aber schon als Selbständiger oder Arbeitnehmer aufenthaltsberechtigt war, kann – auch  aufstockend – Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende beziehen.
  • Tätigkeit als Prostituierte ist objektiv unzumutbar: Die Tätigkeit der Klägerin als Prostituiert berührt aber in besonderer Weise ihre Intimsphäre und damit die Menschenwürde. Aus diesem Grund, so das SG weiter, ist eine solche Tätigkeit generell objektiv unzumutbar.
  • Aufgabe der Prostitution nicht selbst verschuldet: Das Aufgeben der Prostitution ist daher keine freiwillige, selbstverschuldete Beendigung der Erwerbstätigkeit im Sinne des EU-Freizügigkeitsrechts. Denn es ist unerheblich, dass die Klägerin diese Tätigkeit schon vorher ausgeübt hat. Dem Gericht zufolge wird eine objektiv nicht zumutbare Arbeit, nicht deshalb zumutbar, weil die betreffende Person diese vorher zeitweise ertragen hat.
Damit behält die Klägerin aus Bulgarien auch ihr Aufenthaltsrecht als ehemalige Selbständige. Dieses Recht wirkt fort und führt dazu, dass sie nicht von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen ist.
 
Quelle: Urteil des SG Berlin vom 15.05.2022 – S 134 AS 8396/20


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(ESV/bp)