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Cannabis als Medizin 
15.11.2022

BSG zur ärztlichen Verordnung von Cannabisblüten

ESV-Redaktion Recht
Krankenkassen dürfen die ärztliche Verordnung von Cannabis nur auf Vollständigkeit und Plausibilität hin überprüfen (Foto: Elroi / stock.adobe.com)
Seit März 2017 dürfen Vertragsärzte der gesetzlichen Krankenkassen (KK) Medikamente auf der Grundlage von Cannabis verordnen. Voraussetzung hierfür ist aber eine Genehmigung der KK. Die Tatbestandsmerkmale der Genehmigung hat nun der 1. Senat des BSG in vier Parallelverfahren konkretisiert.


Geregelt ist die Rechtsmaterie im Kern in § 31 Abs. 6 SGB V in Verbindung mit § 9 Abs. 1 BtMVV. Demnach bedarf die Leistung bei der ersten Verordnung für Versicherte der Genehmigung der KK. Die Genehmigung muss die Kasse vor der Leistungsbewilligung erteilen. Der 1. Senat des BSG hat in seinen Entscheidungen im Wesentlichen folgende Tatbestandmerkmale behandelt: 

Mitteilung durch Arzt bzw. Patienten

Der Vertragsarzt muss der KK den Inhalt der geplanten Verordnung mitteilen. Ausreichend ist es auch, wenn der Versicherte seiner KK eine entsprechende Erklärung des Arztes übermittelt. Die Erklärung des Arztes muss nach § 9 Abs. 1 Nr. 3 bis 5 BtMVV
 
  • die Arzneimittelbezeichnung,
  • die Verordnungsmenge
  • die Gebrauchsanweisung mit Einzel- und Tagesdosis sowie die Form der Anwendung
enthalten.  

Schwerwiegende Erkrankung

Weitere Voraussetzung ist eine schwerwiegende Erkrankung des Patienten. Die Krankheit muss die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigen oder gar lebensbedrohlich sein. Zu den einzelnen Begriffen:
 
  • Lebensqualität: Gemeint ist die Fähigkeit des Patienten, seine Grundbedürfnisse selbst zu erfüllen, seine soziale Beziehungen selbst einzugehen und aufrechtzuerhalten sowie am Erwerbs- und Gesellschaftsleben teilzunehmen. Entscheidend sind der Hilfebedarf bei den Verrichtungen des täglichen Lebens sowie die Funktionsstörungen, Schmerzen und Schwächen, die die Lebensqualität beeinträchtigen.
  • Auswirkungen der Krankheit: Die Schwere der Beeinträchtigungen muss überdurchschnittlich sein. Insoweit orientiert sich der Senat an der Bewertung der Auswirkungen von Krankheiten in der VersorgungsmedizinVO nach der Anlage zu § 2 VersMedV. Demnach kann eine schwerwiegende Erkrankung vorliegen, wenn ein Schädigungsgrad (GdS-Grad) von 50 vorliegt. Allerdings sieht der Senat darin keinen starren Grenzwert. Ebenso wenig ist die formelle Feststellung eines Schädiguns- oder Behinderungsrades (GdB) notwendig. Auch dann, wenn die Auswirkungen keinen Einzel-GdS von 50 erreichen, kann eine Cannabis-Verordnung im Einzelfall in Betracht kommen, wenn weitere Erkrankungen vorliegen oder die Auswirkungen die Teilhabe am Arbeitsleben oder anderweitig besonders einschränken.
  • Patienten mit mehreren Krankheiten: Bei sogenannten multimorbiden Personen kommt es auf die Gesamtauswirkungen aller Erkrankungen an. Schränken also Auswirkungen, die sich überschneiden oder gar gegenseitig verstärken, die Lebensqualität so ein, dass dies mit einem Einzel-GdS von 50 vergleichbar ist, ist die Annahme einer schwerwiegenden Erkrankung möglich.


Keine Standardtherapie

Weiterhin darf keine andere allgemein anerkannte Leistung möglich sein, die dem medizinischen Standard entspricht. Dies kann darin begründet sein, dass eine solche Leistung entweder nicht zur Verfügung steht, bei dem Patienten nach Einschätzung des Arztes nicht angewendet werden kann oder keinen Erfolg hatte (§ 31 Abs. 6 Satz Nr. 1 Buchst b SGB V). Eine solche Einschätzung hat der Arzt zu begründen. Hierbei hat er zwar auch eine Einschätzungsprärogative, diese unterliegt aber hohen Anforderungen. Dies ergibt sich dem Senat zufolge aus dem weiter geltenden BtMG. Die Inhalte der ärztlich begründeten Einschätzung:
 
  • Dokumentation des Krankheitszustandes: Erforderlich ist die Dokumentation des Krankheitszustandes einschließlich der Einschränkungen der Fähigkeiten und Funktionen. Zudem muss der Arzt den Patienten selber untersucht haben und ggf. Befunde von weiteren behandelnden Ärzten hinzuziehen.
  • Behandlungsziel: Zudem hat der behandelnde Arzt die mit Cannabis zu behandelnden Erkrankungen einschließlich ihrer Symptome und des Behandlungsziels darzustellen. Hierbei muss er schon durchgeführte Standardbehandlungen sowie deren Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei aufgetretene Nebenwirkungen aufzeigen.
  • Standardtherapien: Weiterhin muss der Arzt verfügbare Standardtherapien, deren zu erwartenden Erfolg und die zu erwartenden Nebenwirkungen darstellen.
  • Abwägung: Schließlich hat er die etwaigen Nebenwirkungen einer Standardtherapie den möglicherweise schädlichen Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis gegenüberzustellen. In seine Abwägung darf er nur solche Nebenwirkungen einfließen lassen, die das Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Erkrankung erreichen. 

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Erfolgsaussicht

Weitere Voraussetzung ist, dass die Behandlung eine – nicht ganz entfernt liegende – Aussicht auf eine spürbare Verbesserung des Krankheitsverlaufs oder auf schwerwiegende Symptome begründet. Insoweit müssen wissenschaftlich objektivierbare Erkenntnisse vorliegen, nach denen die Behandlung im Ergebnis mehr nutzt als schadet.
 
Solche Erkenntnisse können sich aus Unterlagen und Nachweisen ergeben. Hier verweist der Senat zum Beispiel auf § 11 Absatz 2 Satz 1 Nr. 2 f) und g) der Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses. Diese Normen befinden sich im 2. Kapitel (Bewertung medizinischer Methoden sowie Erprobung) und betreffen die Evidenzstufen IV und V.


Kontrollbefugnisse der KK 

  • Einschätzungsprärogative des Arztes: Die KK darf die Einschätzung des Arztes nur insoweit überprüfen, als die erforderlichen Angaben vollständig und inhaltlich nachvollziehbar sind. Sein Abwägungsergebnis darf allerdings nicht völlig unplausibel sein. Eine tiefergehende Prüfung aufgrund der ärztlichen Einschätzungsprärogative ist ausgeschlossen. Dies gilt dem Senat zufolge auch bei einer vorbestehenden Suchtmittelabhängigkeit. Insoweit obliegt es dem Arzt, eine Kontraindikation für Cannabisbehandlung im Einzelfall abzuwägen und in seiner Einschätzung darzulegen. Hierbei muss er sich ein möglichst genaues Bild über das bisherige Konsumverhalten seines Patienten, über etwaige schädliche Wirkungen des bisherigen Konsums und über eine eventuelle Abhängigkeit verschaffen. Auf dieser Basis hat er zu entscheiden, ob eine Kontraindikation vorliegt oder welche Vorkehrungen gegen einen Missbrauch des verordneten Cannabis zu treffen sind.
  • Keine Einschätzungsprärogative beim Wirtschaftlichkeitsgebot: Sowohl bei der Darreichungsform als auch bei der Verordnungsmenge muss Arzt das allgemeine Wirtschaftlichkeitsgebot einhalten. Seine Einschätzungsprärogative gilt hier nicht. Sind Cannabis-Produkte und Arzneimittel mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon gleich gut geeignet, hat der Patient lediglich einen Anspruch auf die Versorgung mit dem günstigsten Mittel.
  • Verweigerung der KK ansonsten nur im Ausnahmefall: Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen für die Erteilung der Genehmigung vor, darf die KK diese nur in begründeten Ausnahmefällen verweigern. Für Verweigerungsgründe ist sie darlegungs- und beweispflichtig. In Betracht kommen nach Senatsauffassung vor allem nicht medizinische Gründe, wie zum Beispiel eine unbefugte Weitergabe des verordneten Cannabis. Ein Vorkonsum und eine Cannabisabhängigkeit berechtigen die KK grundsätzlich nicht zur Verweigerung der Genehmigung.
Der Senat hat die Sache in dem Verfahren B 1 KR 28/21 R an die Vorinstanz zurückverwiesen. In den drei weiteren Verfahren hat das BSG die Revisionen in vollem Umfang zurückgewiesen.




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(ESV/bp)